Welche Narrative braucht die Zukunft?
Wenn wir auf die letzten 200 Jahre blicken, sehen wir mehr als nur technologische Entwicklung. Wir sehen Geschichten, die ganze Gesellschaften geprägt haben: die Erzählung vom Fortschritt, die Erzählung vom Wohlstand durch Industrie, die Erzählung vom „Aufstieg durch Arbeit“. Narrative sind die unsichtbaren Betriebssysteme unserer Welt. Sie geben uns Orientierung, auch wenn wir uns dessen selten bewusst sind.
Heute stehen wir wieder an einer epochalen Schwelle: vom Zeitalter der Industrialisierung in das Zeitalter der Digitalität. Und die große Frage lautet: Welche Narrative brauchen wir, damit wir diesen Übergang nicht nur überstehen, sondern aktiv gestalten?
Von stabilen Strukturen zu fließenden Möglichkeiten
In der Industrialisierung gaben uns Strukturen Halt: Fabriken, feste Arbeitszeiten, hierarchische Organisationen. Stabilität entstand durch Technologie, die Jahrzehnte unverändert blieb. Maschinen, Infrastrukturen und Institutionen waren die Gerüste unserer Gesellschaft. Die dominierenden Narrative waren: „Wer fleißig ist, kann sich nach oben arbeiten.“ und „Je größer, desto effizienter, desto besser!“, ergänzt von vielen Unternarrativen wie „The Winner takes it all“, „Arbeit und Freizeit sind zwei verschiedene Dinge.“, oder auch gerne erzählt „Nur im industriellen System können wir alle Menschen ernähren.“, und so weiter.
Die Digitalität dagegen ist volatil. Künstliche Intelligenz, Netzwerke, Plattformen – sie verändern sich im Sekundentakt. Stabilität kann nicht mehr aus den Technologien oder festgefahrenen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Strukturen selbst kommen. Stabilität entsteht nun aus Werten. Aus dem, was wir Menschen einander zuschreiben, was wir gemeinsam für sinnvoll halten. Denn wenn wir stabile Werte haben, können wir mit Hilfe von wechselnder Technologie, sich veränderndem Alltag, diese Werte zunehmend stabilisieren – nur ist das eben ein komplett anderes Gesellschaftsbild. Das erfordert nämlich ein anderes Denken: nicht mehr „Welche Wahrscheinlichkeiten bedrohen unsere Strukturen?“, sondern „Welche Möglichkeiten haben wir, unsere Werte zu leben?“
Intersubjektive Narrative: Geschichten, die wir gemeinsam erleben
In der Vergangenheit haben sich Narrative so tief in unseren Kopf eingebrannt, dass wir sie zu unverrückbaren Glaubenssätzen erhoben haben. In der Wissenschaft nennen wir das intersubjektive Narrative: Geschichten, die viele Menschen in ähnlicher Form immer wieder erfahren, die aber nicht „objektiv“ feststehen. Geld ist ein solches Narrativ: wir erleben immer wieder, dass man damit zahlen kann, obwohl das bedruckte Papier an sich keinen objektiven Wert hat. Demokratie ist ein anderes intersubjektives Narrativ. Jede Form der Religion ist ein weiteres. Jeder Mensch hat darin immer wieder subjektiv ein Erlebnis welches dem Narrativ sehr ähnlich ist. Idealer Weise sogar mehrere, die sich in der subjektiven Erwartung “dass es so kommen wird” tatsächlich erfüllen.
Auf diese Weise in der Gesellschaft etablierte Narrative sind kaum zu Wiederlegen, denn dazu müssten viele Menschen andere Erfahrungen machen, die sich auch wieder ähneln. „Made in Germany“ war lange ein starkes intersubjektives Narrativ – es stand nicht nur für Qualität, sondern für die Haltung eines ganzen Landes, für Stolz und Verantwortung. Solche Narrative entstehen nicht von allein. Sie werden erzählt, geteilt, gelebt. Sie sind hermeneutisch, also allumfassend, in unseren Alltag integriert: Wir interpretieren sie immer wieder neu, passen sie an, füllen sie mit Bedeutung und immer neuen Erzählungen. Und sie können uns in der Digitalität mehr Orientierung geben als jede feste Struktur.
German Angst oder German Zukunft?
Noch aber verharren wir überwiegend in den alten Narrativen der industriellen Sozialisierung – diese industrielle Zeit erleben wir als Abebbend. So auch die damit verbundenen Narrative. Sie verlieren an Kraft wie “Made in Germany” – die Erfahrungen drehen sich ins Negative. Wir gelangen dadurch, da neue Narrative sich noch nicht gebildet haben, bzw. wir gerade die Übersicht verloren haben, wo wir diese finden, zunehmend in einen Zustand der Angst, der „German Angst“. Daraus folgt der Drang, Risiken übergenau zu analysieren, Szenarien durchzuspielen, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Es lenkt uns zudem ab von den Möglichkeiten. Das hat uns in der Industrialisierung geholfen. In der Digitalität führt es uns in die Sackgasse. Denn Wahrscheinlichkeiten sind reaktiv. Sie machen uns zu Getriebenen globaler Trends.
Das neue Narrativ muss aktiver sein: „German Zukunft“ – die Idee, dass wir aus unseren Möglichkeiten schöpfen, nicht aus unseren Ängsten. Dass wir nicht nur fragen: „Was könnte passieren?“, sondern: „Was wollen wir, dass passiert?“
Narrative, die wir brauchen
Das Narrativ der Möglichkeiten.
Wir definieren uns nicht länger über das, was wir verlieren könnten, sondern über das, was wir gestalten können. KI kann dabei helfen, menschliche Fähigkeiten zu potenzieren, statt sie zu ersetzen.Das Narrativ des Gemeinsamen.
In einer polyzentrischen, digital vernetzten Gesellschaft zählen nicht mehr zentrale Hierarchien, sondern geteilte Sinn- und Wertestrukturen. Narrative müssen anschlussfähig sein – lokal wie global.Das Narrativ der Verantwortung.
Digitalisierung ist kein Schicksal. Sie ist gestaltbar. Ob KI zum Jobkiller oder zum Werkzeug der Selbstermächtigung wird, hängt nicht von den Algorithmen ab, sondern von uns.Das Narrativ der Gelassenheit.
In einer Welt, die sich permanent verändert, ist Gelassenheit die neue Stabilität. Nicht jedes Update ist eine Bedrohung. Manches ist einfach ein weiterer Impuls, den wir in unsere Möglichkeiten integrieren können.
Von der Industrie-Logik zur Zukunfts-Logik
Wir müssen uns lösen von der Versuchung, alle neuen Ideen in die alten industriellen Prozesse „hineinzufriemeln“. Das kann nicht funktionieren. Neue Narrative entstehen, wenn wir den Mut haben, bei Null zu beginnen: Was ist mir wichtig? Welche Werte tragen mich? Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus – für mich, für meine Organisation, für die Gesellschaft?
Diese Narrative verweben wir zunehmend inklusiv mit unserem sich ändernden Alltag. Daraus entsteht ein neues Vertrauen, weil mehr Menschen intersubjektiv wieder dieselben Erlebnisse in positiver Form haben. Vertrauen ist wichtig, denn es die Basis dafür Mut haben zu dürfen – etwas Neues zu wagen. Und das müssen wir, wie einst zu den Zeiten von „Made in Germany“, was dereinst eins der stärksten Narrative war.
Vielleicht muss es heute eher heißen „Made from Germany“, also mit der Intention etwas vertrauensvolles, wertvolles für die Welt zu gestalten das von den Menschen in Deutschland ausgeht. Nicht nur Produkte, sondern auch Gedanken, die sich auch in etwas wie künstlicher Intelligenz wiederfinden, einer KI, oder Dienstleistungen/Produkten die hierdurch möglich werden, die Menschen erkennbare Lebens- und Wirtschaftsqualität verschafft. Etwas das nicht nur uns in Deutschland, sondern über die Grenzen hinaus Lebens- und Wirtschaftsqualität garantiert. Und genau damit dafür sorgt, dass wir auf Basis von Werten als das stabilste Land der Welt wahrgenommen werden, an dem man sich orientieren kann. Vermutlich würde das zu globalem wirtschaftlichem wie politischem Einfluss gleichermaßen führen.
Natürlich gibt es auch hier eine unendliche Zahl an neuen Unternarrativen die in die vielen Lebensbereiche einziehen müssten, die unseren Alltag spiegeln. Was ist Demokratie zu Zeiten von KI? Was ist Familie? Was ist Arbeit? Was müssen wir lernen? Wir funktioniert Gesundheit? Wie definiert sich meine Rolle als Frau, Mann in der Gesellschaft? Da sind noch ein paar Fragen zu klären. Im Kern aber müssen wir weg von den industriellen Narrativen die nicht nur falsch sind, es teilweise immer schon waren, sondern sich für immer mehr Menschen auch falsch anfühlen – und das ist fatal, weil es den Glauben in unsere Gesellschaftsform, in die Demokratie untergräbt.
Der Wert guter Narrative
Narrative sind keine Marketing-Slogans. Sie sind tief verankerte Erzählungen, die Orientierung geben, Energie freisetzen und Gesellschaften formen. Wenn wir also fragen: Welche Narrative brauchen wir für die Zukunft?, dann lautet die Antwort: Narrative, die uns erlauben, unsere Vielfalt, unsere Werte und unsere Kreativität mit der Digitalität zu verbinden.
Die Zukunft wird nicht von Algorithmen geschrieben. Sie entsteht aus den Geschichten, die wir uns selbst und einander erzählen. Geschichten, die Mut machen, die verbinden, die Möglichkeiten eröffnen. Geschichten, die aus German Angst eine German Zukunft machen.
Und übrigens: KI ist darin nicht die wichtigste Technologie um die wir uns kümmern müssen, aber sie kann uns helfen andere Technologien in der Medizin, der Mobilität, etc. wie auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt helfen, neue Wege zu finden. Wenn wir sie anhand unserer Werte nutzen und diese damit verstärken. Sonst nicht.